Postglobalisierung
Deutsche Abhängigkeit von russischem Erdgas mitten in der größten Krise der europäischen Sicherheitsordnung seit 1989, Impfstoffnationalismus in der Covid-Pandemie, Diskussionen um das Verbauen von Huawei-Komponenten in die deutsche 5G-Infrastruktur – das sind nur drei aktuelle Beispiele einer kritischen Neubewertung von Interdependenz. Die wechselseitige Verflechtung zwischen Nationen wird heute nicht mehr nur als Quelle von Wohlstand und Kooperation, sondern zunehmend auch als Ursache von Verwundbarkeit gedeutet. Dieser Trend ist älter als die eilig verkündete „Zeitenwende“ von 2022. Entsprechende Kritik ist nach und nach bereits während der 2010er Jahre formuliert worden, am prominentesten von der politischen Rechten rund um Figuren wie Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Viktor Orbán. Sie kulminiert heute in Diskussionen um Entkopplung („decoupling“), vor der Bundeskanzler Olaf Scholz regelmäßig warnt. Auch von einer kommenden „Deglobalisierung“ ist in politischer Rhetorik und Zeitungsspalten die Rede.
Es ist höchste Zeit, einige dieser Interpretationen geradezurücken. Zum einen haben wir es nicht etwa mit einer Deglobalisierung zu tun, sondern mit dem, was wir unter Post-Globalisierung verstehen. Zum anderen gilt es gerade jetzt, Überreaktionen zu vermeiden – Interdependenzen haben weiterhin ihren Wert, müssen aber klarer erkannt und pragmatisch gesteuert werden.
Kernpunkte:
- Im Zeitalter der Post-Globalisierung braucht Deutschland ein kluges Risikomanagement für mehr Resilienz.
- Die deutsche Politik sollte Vorzüge der Globalisierung verteidigen und sich für versäumte Reformen einsetzen.
- Die Regierung sollte bestehende Verflechtungen pragmatisch bewerten und wertebasiert strategisch gestalten.
Die Tücken der Post-Globalisierung:
Verfechter der Idee der Globalisierung nahmen an, die Welt befinde sich in einem unumkehrbaren Prozess der Entgrenzung. Im besten Fall könne man die Globalisierung gestalten – an ihren Grundfesten gebe es jedoch nichts zu rütteln. Doch diese Idee hat schon seit einer Weile an ideologischer Strahlkraft verloren. Zwar zeigen empirische Indikatoren, dass die globale
Verflechtung keineswegs zurückgeht, sondern lediglich seit etwa einem Jahrzehnt stagniert, aber Reden von den Vorzügen der Globalisierung bleiben heute nicht mehr unwidersprochen.
Globalisierung basierte zudem jeher auf einigen Wetten: Vernetzung bringt Wohlstand und Kooperation, die Wirtschaft wird zur einer de-nationalisierten, globalen Kraft, Globalisierung
bringt technologischen und demokratischen Fortschritt, gemeinsame Probleme werden mittels globaler Governance bewältigt. Diesen Credos werden heute kritische Antworten entgegengesetzt, die die Risiken und Nachteile von Verflechtung hervorheben, das Fortschrittsnarrativ der Globalisierung zurückweisen und das Potenzial für globale Kooperation als geringer einschätzen.
Das sollte nicht mit einer Ablehnung der Globalisierung gleichgesetzt werden, auch wenn die heutige Globalisierungskritik zum Teil sehr fundamental ist. Vielmehr sind viele der Kritikpunkte als Ausdrücke von Ambivalenz zu verstehen. So wird die Kritik an wirtschaftlichen Abhängigkeiten von Globalisierungsskeptiker:innen zwar kraftvoll artikuliert, jedoch fordert kein ernstzunehmender Akteur eine komplette Abkopplung nationaler Volkswirtschaften von den Weltmärkten.
Aus diesem Grund sind die Begriffe der Entkopplung oder der Deglobalisierung irreführend. Sprechen wir lieber von der Post-Globalisierung, weil die Globalisierung nicht etwa abgewickelt,
sondern weiterentwickelt wird. Der Zusatz „Post-“ ist hier nicht in einem zeitlichen Sinne als nach der Globalisierung zu verstehen. Vielmehr geht es darum, dass sich die Welt in eine neue Phase jenseits der Globalisierung bewegt. Post-Globalisierung bedeutet nicht, dass die Globalisierung vorbei ist, sondern dass sie in dieser Übergangsphase neu ausgehandelt wird. Nicht zuletzt verweist der Begriff der Post-Globalisierung auch darauf, dass die Phase, die wir derzeit durchleben, in vielerlei Hinsicht offen und wenig eindeutig ist – während die Globalisierung unentrinnbar auf die Entgrenzung des Sozialen und der Wirtschaft hinsteuern sollte, ist der Post-Globalisierung kein klares Ziel eingeschrieben.
Quelle: www.fourninesecurity.de